Wenn Kinder über die Stränge schlagen

Wenn Kinder über die Stränge schlagen

Unter Eltern gibt es scheinbar den Konsens, dass Regeln das wichtigste Instrument in der Kindererziehung sind. Aber wie reagiere ich am besten, wenn mein Kind diese Regeln verletzt?

Sind meine Regeln überhaupt sinnvoll?

Der einjährige Tim klettert gerne auf den kleinen Tisch. Seit er mobil ist, hangelt er sich überall hoch. Tims Mutter sieht das gar nicht gern. Der Tisch ist doch ein Erbstück ihrer Urgroßmutter. Also schimpft sie mit Tim: „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du nicht auf den Tisch klettern sollst!“ Sie nimmt Tim herunter, doch nach kurzer Zeit klettert er schon wieder auf den Tisch. Tims Mutter reagiert sofort: „So, das war’s! Du gehst heute ohne Abendessen ins Bett!“

Na, kommt dir diese Szene bekannt vor? Welche Rolle hast du in dieser Szene? Erkennst du dich selbst im Verhalten der Mutter wieder, oder deine Eltern? Immerhin sind wir durch unsere eigene Erziehung sehr stark geprägt und wiederholen Verhaltensmuster unserer Eltern oft unbewusst. Zugegeben, die Strafe, ohne Essen schlafen zu müssen, wirkt etwas veraltet. Heute gibt es Strafen mit einem Verbot von Facebook oder der Tablet-Nutzung. Ihnen allen liegt aber derselbe Kern zugrunde: Das Kind hat nicht gehorcht, also muss es bestraft werden.

Alternativen anbieten

Wir möchten dich auffordern, über diesen Satz kurz nachzudenken. Was heißt „das Kind hat nicht gehorcht“ eigentlich? Ist das Kind wie ein Hund, den ich trainieren muss? Oder ist es eine eigenständige Persönlichkeit, mit einem einzigartigen Charakter, den ich wertschätzen will? Und wenn wir Erwachsene Fehler machen, warum müssen die Kurzen dann perfekt sein?

Wir hoffen, du nimmst dein Kind respektvoll wahr. Die Kleinen müssen nicht durch Strafen und Regeln erzogen werden. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul sagt: „Wenn man Regeln aufstellt, werden Kinder entweder unterwürfig oder kriminell.“

Auch lernt der Nachwuchs aus einer Strafe nichts. Versetze dich einmal selbst in deine Kindheit. Erinnerst du dich noch, als du in dein Zimmer geschickt wurdest, um darüber nachzudenken, was du getan hast? Oder wie du hungrig im Bett lagst? Wie hast du dich gefühlt?

Solche Maßnahmen rufen beim Kind Frust und Enttäuschung hervor. Darum solltest du als Erwachsener an dieser Stelle zunächst dich und deine Maßnahmen hinterfragen: Macht meine Regel überhaupt Sinn? Warum gibt es diese Regel? Am Beispiel des geerbten Möbelstücks könnten wir fragen: Warum verbiete ich meinem Kind, sich in der Wohnung wohlzufühlen und das zu tun, was ihm Spaß macht? Warum räume ich nicht das Möbelstück auf den Dachboden, bis Tim älter ist und nicht mehr überall hochklettern will?

Du hast für dich entschieden, dass deine Regel dir wichtig ist? Sie entspricht deinem Bedürfnis, zum Beispiel nach Ruhe, Sauberkeit oder eben einer schön eingerichteten Wohnung? Dann ist es an der Zeit, deinem Kind das mitzuteilen.

Kinder brauchen klare Ansagen

Jesper Juul rät dazu, sich selbst abzugrenzen, statt Grenzen zu setzen. Er fordert dazu auf, deutlich und authentisch ein „Nein“ zu kommunizieren, wenn unsere persönliche Grenze überschritten wird: „Kleinkinder übertreten ständig die Grenzen ihrer Eltern. Ihr Verhalten dient einem doppelten Zweck: die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und die Eltern kennenzulernen. Sie wollen herausbekommen, was den Eltern gefällt und was nicht, was sie gutheißen und was sie ablehnen, worauf sie sich einlassen und was ihnen widerstrebt.“ Dabei ist es wichtig, in der Situation konsequent zu bleiben und nicht herum zu eiern. Eine klare Formulierung der eigenen Ansichten und Emotionen ist wichtig. Außerdem sollten dem Knirps Alternativen angeboten werden. Die Mutter aus unserem Beispiel könnte sagen: „Nein, Tim, ich möchte nicht, dass du auf den Tisch kletterst. Er ist sehr schön und ich habe Angst, dass er kaputtgeht. Klettere doch lieber auf diesen Sitzsack.“

Verantwortung nicht an das Kind abgeben

So übernimmt die Erwachsene die Verantwortung für ihr Handeln. Sie macht sich ihre eigenen Bedürfnisse und die ihres Sohnes bewusst und findet eine Lösung, mit der beide leben können. In den meisten Fällen wird das Kind wieder versuchen, auf den Tisch zu klettern. Dann ist es sinnvoll, eine logische Konsequenz statt einer Strafe folgen zu lassen.

Strafen sind zu abstrakt, um vom Nachwuchs in Zusammenhang mit dem „Regelverstoß“ gesetzt zu werden. Damit Tim lernt, dass der Tisch tabu ist, könnte seine Mutter in herunter heben und den Tisch in den Flur stellen. Das alles sollte sie auch mündlich begleiten, aber ohne Vorwürfe: „Ich stelle den Tisch jetzt in den Flur. Du kannst auf den Sitzsack klettern.“

Das Kind begleiten

Jetzt wird folgen, wovor die meisten Eltern sich fürchten: Das Kind fängt an zu weinen. Wir beobachten es täglich in fast jeder Situation. Schon im Kinderwagen werden Kinder so lange geschuckelt, bis sie nicht mehr weinen. Auf dem Spielplatz sagt der Vater zu dem Jungen mit dem aufgeschürften Knie: „Ist doch gar nicht so schlimm“, damit der Kleine aufhört zu weinen. Warum verhalten wir uns so? Warum haben wir Angst davor, dass unser Kind weinen könnte? Würdest du auch deiner besten Freundin so etwas sagen, während sie sich wegen der Trennung von ihrem Mann die Augen ausweint? Ganz sicher würdest du sie in den Arm nehmen und sagen: „Ich verstehe, warum du traurig bist.“

Es ist in Ordnung, dass dein Kind weint. Kleine Menschen haben ein Recht darauf, ihre Emotionen zu zeigen und nicht wie kleine Zinnsoldaten funktionieren zu müssen. Wenn du unsicher bist, wie du in der Situation reagieren sollst, kannst du die Emotionen deines Kindes benennen: „Du bist jetzt traurig und enttäuscht, weil ich den Tisch weggenommen habe. Das kann ich gut verstehen. Ich wäre auch traurig.“ Dein Kind dabei in den Arm zu nehmen tröstet es viel mehr als die Sprüche nach dem Motto: „Bald ist es wieder gut.“ Gib deinem Kind die Möglichkeit zu trauern, auch wenn es dir völlig unwichtig erscheint.

Wünsche oder Bedürfnisse?

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, herauszufinden, warum dein Nachkomme mit weinen oder schreien reagiert. Ist es nur ein Wunsch, der nicht erfüllt wird, oder handelt es sich um ein Bedürfnis? Wünsche dürfen durchaus abgeschlagen werden. Auch hier solltest du klar formulieren, damit dein Kind deine Reaktion versteht. Bleib authentisch. Kinder merken, wenn du lügst oder dich zu etwas zwingst, was du eigentlich nicht willst.

Die dreijährige Julia möchte unbedingt ein Eis essen gehen. Ihr Vater war die ganze Woche arbeiten und hatte den freien Samstag mit süßem Nichtstun geplant. In dem Fall könnte er sagen: „Nein, Julia, wir gehen heute kein Eis essen. Ich bin sehr müde und möchte mich etwas ausruhen. Wir können morgen ein Eis essen gehen.“ Es ist vollkommen in Ordnung, nicht allen Wünschen deines Kindes gerecht zu werden. Aber du solltest darauf achten, dein Versprechen auf zeitnahe Ausübung zu halten.

Ganz besonders wichtig ist uns in dem Zusammenhang auch, dass du dein Kind nicht ständig abweist. Frage dich, wie viel Zeit du wirklich bewusst mit deiner Tochter oder deinem Sohn verbringst. Dass sie auf dem Spielplatz toben, während du mit dem Smartphone in der Hand danebensitzt, zählt nicht dazu. Schenke deinem Kind Aufmerksamkeit und beschäftige dich mit ihm. So zeigst du ihm die meiste Wertschätzung.

Echte Bedürfnisse erkennst du, wenn du dein Kind beobachtest. Zunächst gibt es natürlich die Grundbedürfnisse nach Nahrung, einer sauberen Windel oder Nähe. Wenn die Kleinen nachts in der Tür stehen, ist das zwar oft nervig, aber versuche zu verstehen, dass sie sich einfach nach deiner Liebe sehnen. Ist das nicht wunderbar? Wenn dein Kind schon älter ist, kannst du ihm helfen, seine Bedürfnisse klar zu formulieren: „Ich möchte kuscheln.“ oder „Ich habe Angst alleine in meinem Zimmer.“ ist ein klares Bedürfnis. „Ich möchte jetzt mitten in der Nacht mit euch Lego spielen.“ zeigt dagegen deutlich einen Wunsch.

Verantwortung übernehmen

Vielen Eltern fällt es zunächst schwer, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse von denen des Kindes zu unterscheiden. Die dreckige Spielplatz-Hose auszuziehen, ist meist eher ein Bedürfnis der Mutter, gepaart mit einem: „Was sollen denn da die Leute denken?“ Wir möchten dich auch hier noch einmal bestärken, dich zu fragen, warum dir solche Sachen wichtig sind und wie du sie deinem Kind deutlich machen kannst.

Damit sich dein Knirps zu einer starken Persönlichkeit entwickelt, ist es wichtig, ihn Entscheidungen selbst treffen zu lassen. Lass ihn ruhig morgens selbst entscheiden, ob er eine Jacke anziehen möchte oder ob es ohne warm genug ist. Allerdings solltest du in Situationen, in denen es um das Wohl deines Sprösslings geht, nicht die Verantwortung aus der Hand geben. Selbstbestimmung hört dort auf, wo es gefährlich wird. Kommuniziere klar, dass du dein Kind beim Überqueren der Straße auf den Arm nimmst und warum. Nur so können die Kleinen lernen, Gefahren selbst einschätzen.

Wertschätzung und Respekt sind die Grundpfeiler, auf denen Jesper Juul seine Erziehungsansätze baut. Als Lesetipp empfehlen wir seine Bücher „Grenzen – Nähe – Respekt“ und „Nein aus Liebe“.

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